Innovations-Strategien: Christensen versus von Hippel

Die Denkansätze von Clayton Christensen und Eric von Hippel bieten jeweils einzigartige Perspektiven auf die Ursprünge und Treiber von Innovationen. Christensen ist bekannt für seine Theorie der disruptiven Innovation, die besagt, dass Unternehmen – besonders Start-ups – technologische Durchbrüche schaffen, die etablierte Player oft zu spät erkennen oder unterschätzen. Im Gegensatz dazu vertritt von Hippel die Ansicht, dass Innovationen oft von Nutzern selbst entwickelt werden, insbesondere von sogenannten „Lead Usern“, die Lösungen für ihre eigenen Bedürfnisse entwerfen, die von bestehenden Produkten nicht ausreichend gedeckt werden​​.

Clayton Christensens Ansatz: Disruptive Innovationen

Hintergrund und Konzept:

Christensens Theorie der disruptiven Innovation, erstmals in seinem Buch The Innovator’s Dilemma (1997) vorgestellt, konzentriert sich auf das Phänomen, dass etablierte Unternehmen häufig durch neue Technologien oder Geschäftsmodelle verdrängt werden, die zunächst in Nischenmärkten Fuß fassen, bevor sie den Massenmarkt erobern​. Die zentrale Idee ist, dass diese Innovationen zu Beginn oft qualitativ schlechter als bestehende Produkte sind, aber bestimmte neuartige Eigenschaften bieten (z.B. niedrigere Kosten oder höhere Zugänglichkeit), die eine kleine, aber wachsende Gruppe von Kunden ansprechen. Durch fortlaufende Verbesserungen erobern diese Innovationen dann größere Marktanteile und verdrängen schließlich die etablierten Marktführer​​.

Vorteile von Christensens Ansatz:

  1. Voraussage von Disruptionen: Christensens Modell hilft Unternehmen, potenzielle Disruptoren frühzeitig zu identifizieren, indem es auf Nischenprodukte und Technologien verweist, die von etablierten Firmen oft ignoriert werden. Die Theorie zeigt auf, wie diese Technologien einen Markt betreten und ihn letztlich transformieren können​​.
  2. Innovator’s Dilemma: Ein wesentlicher Vorteil ist, dass Christensen die „Geiselhaft“ etablierter Unternehmen beschreibt. Diese Firmen konzentrieren sich oft so stark auf die Optimierung ihrer bestehenden Produkte für ihre bestehenden Kunden, dass sie radikale Innovationen als unattraktiv oder riskant wahrnehmen. Dies bietet Raum für neue Marktteilnehmer, die von dieser zögerlichen Haltung profitieren können. Dieses Dilemma zwingt Unternehmen zu schwerwiegenden strategischen Entscheidungen, ob sie bestehende Märkte mit optimierten Produkten bedienen oder das Risiko eingehen, disruptive Technologien zu fördern, die ihre eigenen Geschäftsmodelle kannibalisieren könnten​​.
  3. Empirische Grundlage: Christensen hat zahlreiche Fallstudien herangezogen, um seine Theorie zu untermauern – von der Verdrängung mechanischer Festplatten durch solid-state Drives bis hin zum Aufstieg von Netflix, das den Videoverleih revolutionierte​. Dies macht seine Theorie robust und greifbar.

Nachteile von Christensens Ansatz:

  1. Fokussierung auf technologische Disruption: Die Theorie eignet sich besonders für Branchen, die stark von technologischen Fortschritten geprägt sind. Sie vernachlässigt jedoch andere Formen von Innovationen, insbesondere inkrementelle Verbesserungen oder organisatorische Innovationen, die ebenfalls bedeutende Marktveränderungen hervorrufen können​. In weniger technologielastigen Märkten oder in Bereichen, in denen Nutzerpräferenzen langsamer wechseln, bleibt der Ansatz unzureichend.
  2. Spätstart des Innovationsprozesses: Disruptive Innovationen beginnen oft mit einem schwachen Leistungsversprechen, das etablierten Produkten unterlegen ist. Dies führt dazu, dass ihre Marktanteilsgewinne erst im Laufe der Zeit sichtbar werden. Diese Verzögerung kann es etablierten Unternehmen schwer machen, die Bedeutung einer solchen Innovation rechtzeitig zu erkennen​​.
  3. Fehlende Berücksichtigung der Nutzerseite: Christensen betont stark die Rolle von Unternehmen – insbesondere Start-ups – und weniger die Rolle der Konsumenten oder Nutzer, die in der Praxis oft selbst als wichtige Innovationsquelle fungieren (wie von Hippel betont)​. Nutzer-getriebene Innovationen, wie sie in Open-Source-Projekten oder durch Lead User entstehen, werden in seinem Modell nicht ausreichend berücksichtigt.

Eric von Hippels Ansatz: Lead User und nutzerbasierte Innovationen

Hintergrund und Konzept:

Von Hippel, Professor am MIT, entwickelte das Konzept der „Lead User“-Innovation, das darauf basiert, dass viele bahnbrechende Innovationen nicht von Unternehmen, sondern von den Nutzern selbst stammen. „Lead User“ sind besonders fortschrittliche Anwender, die aufgrund spezifischer Bedürfnisse oder Herausforderungen, die auf dem Markt nicht ausreichend gelöst werden, eigene Lösungen entwickeln​​. Beispiele sind Hobbyisten, Wissenschaftler oder Start-up-Gründer, die ein Produkt für ihren eigenen Gebrauch entwickeln, das später von größeren Unternehmen kommerzialisiert wird.

Vorteile von Hippels Ansatz:

  1. Anpassung an echte Bedürfnisse: Nutzer, insbesondere Lead User, verstehen ihre Bedürfnisse oft besser als Unternehmen. Dadurch entwickeln sie Lösungen, die passgenauer auf ihre Anforderungen zugeschnitten sind. Dies hat den Vorteil, dass die Innovationen direkt auf Marktanforderungen abgestimmt sind und weniger „Marktforschung“ benötigen​.
  2. Breitere Innovationsbasis: Von Hippels Ansatz öffnet das Innovationsfeld für eine Vielzahl von Akteuren, von Einzelpersonen bis hin zu Open-Source-Communities. Es entsteht ein demokratischerer Innovationsprozess, bei dem nicht nur Unternehmen die treibenden Kräfte sind, sondern auch die Anwender selbst​​.
  3. Flexibilität und Praxisnähe: Da Lead User oft selbst von den bestehenden Lösungen betroffen sind, können sie ihre Innovationen kontinuierlich anpassen und optimieren. Dies führt zu iterativen Verbesserungen, die pragmatisch und praxisnah sind. Oft entstehen hier auch radikale neue Lösungen, die über das hinausgehen, was etablierte Unternehmen auf Grundlage ihrer Marktforschung voraussehen könnten​.

Nachteile von Hippels Ansatz:

  1. Skalierbarkeit: Während Lead User oft innovative und kreative Lösungen entwickeln, fehlt ihnen häufig die Infrastruktur und die Ressourcen, um diese Lösungen in großem Umfang zu vermarkten. Unternehmen müssen oft einspringen, um diese Innovationen zu kommerzialisieren, was einen potenziellen Engpass darstellt​​.
  2. Marktkommerzialisierung kann lange dauern: Es dauert oft lange, bis nutzerbasierte Innovationen den breiteren Markt erreichen. Die Übergangszeit von der Entdeckung zur Kommerzialisierung kann erheblich sein, und viele vielversprechende Ideen bleiben in der Nische gefangen oder verlieren an Dynamik​.
  3. Abhängigkeit von engagierten Nutzern: Nicht alle Märkte haben eine aktive oder technikaffine Nutzerbasis, die Innovationen vorantreiben könnte. Lead User existieren nicht in allen Märkten in gleicher Weise, was bedeutet, dass der Ansatz in bestimmten Branchen begrenzt ist​.

Situative Anwendung und komplementäre Ansätze:

Wann ist welcher Ansatz besser geeignet?

  • Technologie-getriebene Märkte: In Branchen wie der Informationstechnologie, der Unterhaltungselektronik oder der Biotechnologie, die stark von technischen Innovationen abhängen, ist Christensens Modell der disruptiven Innovation besonders relevant. Hier können Start-ups durch technologische Fortschritte bestehende Spieler verdrängen, wie es beispielsweise bei Netflix gegenüber Blockbuster oder bei digitalen Kameras gegenüber Kodak der Fall war​​.
  • Benutzerorientierte Märkte: In Märkten, in denen die Bedürfnisse und Herausforderungen der Nutzer ständig variieren oder extrem individualisierte Lösungen gefragt sind – etwa im Bereich von Open-Source-Software oder bestimmten medizinischen Geräten –, ist von Hippels Ansatz oft hilfreicher. Hier sind es oft die Endanwender, die durch ihre eigenen Probleme zur Innovationsquelle werden​.
  • Komplementarität in der Praxis: In vielen Fällen sollten beide Ansätze jedoch nicht als Gegensätze, sondern als komplementäre Strategien betrachtet werden. Unternehmen sollten sowohl den Markt auf technologische Disruptionen durch neue Marktteilnehmer überwachen als auch die Bedürfnisse und kreativen Lösungen ihrer eigenen Nutzer im Auge behalten​. Ein Beispiel wäre die Kombination von Crowdsourcing-Initiativen zur Einbeziehung von Nutzern (von Hippel) mit einem internen F&E-Programm zur Entwicklung radikaler Technologien (Christensen)​.

Fazit:

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl Christensens Theorie der disruptiven Innovation als auch von Hippels Lead-User-Ansatz wertvolle Einsichten für unterschiedliche Marktbedingungen bieten. Ihre Anwendung hängt von der Natur der Märkte, den technischen Voraussetzungen und den Bedürfnissen der Endnutzer ab. In einigen Fällen können beide Ansätze nebeneinander existieren, wobei Unternehmen sowohl technologische Disruptionen als auch nutzergetriebene Innovationen strategisch nutzen sollten, um wettbewerbsfähig zu bleiben.