The Future of Labor Law
Mein Doktorvater Prof. Dr. mult. Manfred Weiss von der Universität Frankfurt (meine Promotion 1987: Schließmann, Bildschirmgeräteeinsatz und Betriebsverfassung, R.G. Fischer Verlag, Frankfurt, Diss. u. Fachbuch ca. 600 S.) schenkte mir neulich ein Exemplar seiner Publikation zur Zukunft des Arbeitsrechts. Ich möchte einige zentrale Thesen aus dem in Englisch verfassten Buch hier in Deutsch vorstellen:
1. Historische Entwicklung des Arbeitsrechts und der „Arbeitsverfassung“
- Hugo Sinzheimers Einfluss: Weiss hebt die Relevanz von Sinzheimers Konzept der „Arbeitsverfassung“ hervor. Dabei wird das Arbeitsverhältnis primär als Machtbeziehung und erst sekundär als Vertragsbindung verstanden. Diese Perspektive beeinflusst die Integration kollektiver und individueller Dimensionen im Arbeitsrecht.
- Kulturelle Prägung des deutschen Arbeitsrechts:
- Nach dem Zweiten Weltkrieg führte die konservative Ausrichtung vieler akademischer Kreise zu einer Vernachlässigung progressiver Arbeitsrechtsansätze.
- Weiss schätzt die Bedeutung der Weimarer Republik und der Pionierarbeit von Sinzheimer, Neumann und Kahn-Freund, die den Grundstein für modernes Arbeitsrecht legten.
2. Europäische Dimension des Arbeitsrechts
- Entwicklung des EU-Arbeitsrechts:
- Ursprünglich wurde Arbeitsrecht im Vertrag von Rom (1957) fast vollständig ignoriert, bis das Pariser Gipfeltreffen 1972 die Verbindung zwischen Marktintegration und sozialem Fortschritt herstellte.
- Weiss kritisiert jedoch die unzureichende Harmonisierung in Bereichen wie Tarifverhandlungen, Streikrecht und Arbeitsentgelt. Er fordert stärkere legislative Befugnisse für die EU in sozialen Fragen.
- Direktiven und Mindeststandards:
- Weiss betont die Bedeutung von Mindeststandards, um regulatorische Unterschiede zwischen Mitgliedsstaaten zu minimieren.
- Er nennt die Mindestlohnrichtlinie als Beispiel für einen Versuch, soziale Ungleichheiten zu reduzieren, weist jedoch darauf hin, dass diese keine Verpflichtung zu einem einheitlichen Mindestlohn schaffen kann.
3. Globalisierung und die Rolle internationaler Institutionen
- International Labour Organization (ILO):
- Weiss beschreibt die ILO als zentralen Akteur zur Förderung globaler Arbeitsstandards, sieht jedoch eine Schwäche in ihrer Durchsetzungsmacht.
- Die Spannung zwischen globalen Standards und lokalen Gegebenheiten bleibt ein ungelöstes Problem. Weiss spricht sich für schrittweise Anpassungsmechanismen aus, um unterschiedliche wirtschaftliche und soziale Ausgangsbedingungen zu berücksichtigen.
- Tripartismus und Umweltfragen:
- Die Dreiparteienstruktur (Regierungen, Arbeitgeber, Gewerkschaften) der ILO wird von Weiss als essenziell angesehen, jedoch für moderne Herausforderungen wie Umweltfragen als unzureichend bewertet.
4. Mitbestimmung und Arbeitsrecht in Deutschland
- Mitbestimmung als Kern des deutschen Modells:
- Weiss sieht die Mitbestimmung in Aufsichtsräten und Betriebsräten als einen der herausragenden Beiträge Deutschlands zum Arbeitsrecht. Diese Modelle fördern die Zusammenarbeit zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern.
- Er hebt seine Beteiligung an der Gestaltung der Europäischen Betriebsräte-Richtlinie hervor, die sich auf Verfahrensregelungen statt auf inhaltliche Regulierung konzentriert und damit die politische Akzeptanz erhöht hat.
- Herausforderungen durch Digitalisierung:
- Die rasante technologische Entwicklung gefährdet bestehende Modelle wie die duale Berufsausbildung. Weiss argumentiert, dass die Vermittlung von „Lernkompetenzen“ über spezialisierte Ausbildung hinausgehen muss. Ich persönlich unterstütze diese Sicht aus meiner Lehrtätigkeit seit über 30 Jahren. Informationen können wir heute überall her beziehen. Die heutige Kompetenz und Herausforderung muss der Umgang mit Informationen sein. Der Weg von Information zu reflektiertem Wissen zur Aus- und Bewertung zur Anwendung und zu Resultaten ist entscheidend. Wissen alleine ist nichts. Was daraus entsteht, ist entscheidend.
5. Rechtstheoretische und methodologische Beiträge
- Vergleichende Rechtswissenschaft:
- Weiss ist ein Verfechter des funktionalen Ansatzes in der vergleichenden Rechtswissenschaft. Dieser analysiert nicht nur gesetzliche Texte, sondern auch deren Anwendung und sozioökonomischen Kontext. Recht ist für mich kein Selbstzweck, sondern dient dem sozialen und ökonomischen System einer Gesellschaft. Unsere aktuelle Regierung in Deutschland zeigt, was passiert, wenn Gesetze genau das nicht leisten!
- Seine Methode hat Anwendungen in internationalen Missionen, beispielsweise in Südafrika und Sambia, inspiriert.
- Kritik am „Konstitutionellen Positivismus“:
- Weiss lehnt die Idee ab, dass die Verfassung alle Antworten auf rechtliche Fragen liefert, wie es von Thilo Ramm vertreten wurde. Stattdessen plädiert er für flexible und evolutionäre Auslegungen.
6. Reformbedarf und zukünftige Herausforderungen
- Auflösung traditioneller Beschäftigungsverhältnisse:
- Die Unterscheidung zwischen angestellten und selbständigen Arbeitsverhältnissen verliert an Bedeutung. Weiss fordert neue Strukturen, die den Schutz der Arbeitnehmerrechte in flexibleren Arbeitsverhältnissen gewährleisten. Genau das ist dringend nötig, um die in den letzten Jahren fundamentale Veränderung der Arbeitsweisen gerecht zu werden. Immer weniger Menschen sind fest in eine Organisation eingebunden, sondern es entstehen ganz neue hybride Formen der Zusammenarbeit, dem das Arbeitsrecht in seiner oft schwarz-weiss-Betrachtung nicht wirklich differenziert gerecht wird. Hätte ich heute nochmals zu promovieren, wäre das ein spannendes Thema.
- Die Zukunft des Arbeitsrechts:
- Weiss sieht die Notwendigkeit, Arbeitsrecht als dynamisches Werkzeug zur Bewältigung wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen zu betrachten. Besonders wichtig ist ihm die Stärkung sozialer Rechte angesichts zunehmender populistischer und nationalistischer Tendenzen in Europa.
7. Biografische und persönliche Einflüsse
- Einflussreiche Mentoren und Kollegen:
- Hugo Sinzheimer, Otto Kahn-Freund und Spiros Simitis prägten Weiss’ Ansätze und inspirierten seine Arbeiten zur Integration von Rechtstheorie, Soziologie und Arbeitsrecht.
- Praktische Erfahrungen:
- Seine internationalen Beratungsmissionen (z. B. für die ILO) und seine interdisziplinären Projekte zeigen Weiss’ Einsatz für menschenorientierte und praxisnahe Lösungen im Arbeitsrecht.
Zusammenfassend spiegelt Manfred Weiss’ Werk ein tiefes Engagement für gerechtes Gleichgewicht, den Schutz der Arbeitnehmerrechte und die Anpassung des Arbeitsrechts an globale und technologische Herausforderungen wider. Seine Forschung betont die Bedeutung von internationalen Standards, interdisziplinärer Analyse und die Weiterentwicklung des Arbeitsrechts als Schlüssel für eine ausgewogene Arbeits-Gesellschaft.
Ich bewundere seine Schaffenskraft und seinen fortgesetzten Einfluss als Wissenschaftler und Mentor auch noch in höherem Alter. So hat er u.a. die kroatische Regierung dabei beraten, auf dem Weg in die EU ein kodifiziertes Arbeitsrecht aufzubauen, das in vielen Punkten seine Handschrift belegt.
Unser Kontakt über all die Jahre wie auch gelegentliche persönliche Treffen zum Gedankenaustausch sind sehr wertvoll. Danke dafür – es war mir eine Ehre bei ihm zu promovieren!