Keine Angst vor DeepSeek
DeepSeek schockt die Technologiebranche und die Börsen mit einer angeblichen Disruption.
Disruptionen kommen aus dem Nichts und erschüttern Branchen. Diese Angriffe gehen oft von Startups aus, die dadurch die etablierte Unternehmen verdrängen. So oder so ähnlich lässt sich das weit verbreitete Verständnis von Disruptionen zusammenfassen. Dieses beschreibt jedoch nur das Ergebnis einer Disruption – die Verdrängung bestehender Unternehmen – doch es beschreibt noch nicht den grundlegenden Mechanismus einer Disruption. Was ist also eine Disruption?
Eine Disruption ist eine radikale Neugestaltung der fundamentalen Spielregeln heutiger Produkte und Leistungen einer Branche, wodurch neue Kundenbedürfnisse bedient oder bekannte wesentlich effizienter erfüllt werden. Dies führt zur Verdrängung bestehender Branchen und Unternehmen. Clayton M. Christensen, ehemaliger Professor an der Harvard Business School, prägte den Begriff „disruptive Innovation“, der heute oft missverstanden oder beliebig verwendet wird. Die ursprüngliche Theorie beschreibt, wie neue Marktteilnehmer (Newcomer) mit vermeintlich „einfachen“ Produkten oder Services zunächst im unteren Segment eines Marktes oder einer unbediente Nische angreifen und sich dann stetig verbessern, bis sie langfristig sogar die etablierten Anbieter ablösen oder verdrängen. Clayton Christensen entwickelte den Begriff „Disruptive Innovation“, um zu beschreiben, wie einfach wirkende oder günstige Lösungen große etablierte Player schrittweise vom Markt verdrängen können. Diese Theorie soll nicht jede Art von bahnbrechendem Erfolg erklären, sondern ein bestimmtes Muster der Marktdynamik.
Kernpunkte, die oft missverstanden werden
- Disruptiv ≠ alle radikalen Innovationen: Disruptive Innovation folgt einem bestimmten Muster: vom vermeintlich „simplen“ Produkt, das von etablierten Playern ignoriert wird, hin zum Aufstieg in den Massen- und Premiummarkt.
- Disruptiv ≠ technologisch überlegen: Zum Start ist das disruptive Produkt häufig technologisch (noch) nicht besser, sondern nur passender für ein unterschätztes Marktsegment.
- Timing und Unterschätzung als Schlüssel: Der Disruptor wird von den Marktführern lange nicht als Bedrohung wahrgenommen. Erst wenn die Qualitäts- und Leistungsfähigkeit stark zunimmt, spüren die Incumbents den Druck – manchmal zu spät.
DeepSeek kann als Disruptor gesehen werden, greifen es doch mit kostengünstigen und angeblich stark einfacheren KI Lösungen die Etablierten der Branche an. Doch was kann das bedeuten?
1. Das Jevons-Paradoxon im Kontext von DeepSeek
Was ist das Jevons-Paradoxon?
Das Jevons-Paradoxon besagt vereinfacht, dass eine Effizienzsteigerung beim Einsatz einer Ressource oft nicht zu einem geringeren, sondern zu einem höheren Gesamtverbrauch führt. Der historische Ursprung liegt bei der Kohlenverbrauchsanalyse des Ökonomen William Stanley Jevons. Er beobachtete, dass durch leistungsfähigere Dampfmaschinen weniger Kohle pro Maschine verbraucht wurde, was allerdings gleichzeitig dazu führte, dass viel mehr Maschinen eingesetzt und somit insgesamt sogar mehr Kohle verbraucht wurde.
Übertragung auf den KI-Bereich:
DeepSeek hat einen neuen KI-Assistenten entwickelt, der angeblich mit deutlich weniger Rechenleistung und günstigeren Halbleitern auskommt. Man könnte zunächst annehmen, dies reduziere die Nachfrage nach teuren Hochleistungschips und Rechenzentren. Laut dem Jevons-Paradoxon ist jedoch wahrscheinlicher, dass durch kostengünstigere KI-Lösungen viel mehr Nutzer auf KI-Anwendungen zugreifen werden. Diese breitere Nutzung schafft letztlich eine größere Gesamt-Nachfrage nach KI-Services und -Infrastruktur, zu der auch Hochleistungschips und Rechenzentren zählen.
Kurz gesagt: Mehr Effizienz = niedrigere Schwelle für Nutzer = höhere Gesamtverbreitung = höherer Gesamtverbrauch an (KI-)Ressourcen.
Etablierte Technologie-Champions haben sich ihren Platz nicht nur durch schnelle Innovationsfähigkeit, sondern vor allem durch nachhaltige Wettbewerbsvorteile erarbeitet. Das Jevons-Paradoxon suggeriert, dass Effizienzsteigerungen in vielen Fällen keine Bedrohung, sondern ein zusätzlicher Wachstumstreiber sein können.
2. Burggrabenstrategie („Economic Moat“) und ihre Bedeutung
Worin besteht eine Burggrabenstrategie?
Der Begriff „Burggraben“ (englisch „Moat“) stammt aus der Investment-Philosophie von Warren Buffett und bezieht sich auf langfristige Wettbewerbsvorteile, die Wettbewerber nur schwer überwinden können. Ein solcher Burggraben führt dazu, dass ein Unternehmen in seiner Branche überdurchschnittlich profitabel und widerstandsfähig bleibt, auch wenn ein Disruptor angreift.
Typische Formen von Burggräben
- Markentreue und Kundenbindung (z.B. durch Lifestyle, Ökosystem, Prestige)
- Skaleneffekte und Kostenvorteile (z.B. durch große Absatzmengen, hoch effiziente Logistik)
- Hohe Wechselkosten (z.B. Software-Systeme, in die Kunden tief integriert sind)
- Patente und technologischer Vorsprung (z.B. proprietäre Forschung und Entwicklung, proprietäre Standards)
- Netzwerkeffekte (z.B. je mehr Teilnehmer ein System nutzt, desto attraktiver wird es für weitere Teilnehmer)
Warum sind Burggräben heute so wichtig?
Gerade in schnelllebigen Branchen wie der Technologiebranche entscheidet die Fähigkeit, sich gegen disruptive Wettbewerber zu behaupten, über den langfristigen Erfolg. Ein tiefer Burggraben federt nicht nur Marktschwankungen ab, sondern ermöglicht es etablierten Unternehmen oft, neue Trends zu nutzen, anstatt ihnen zum Opfer zu fallen.
3. Beispiele: Apple, Amazon, ServiceNow, Microsoft und Nvidia
Apple
- Markentreue/Lifestyle: Kaum eine andere Technologiemarke hat so loyale Fans. Das Image von „Premium und Lifestyle“ sorgt dafür, dass Kunden bereit sind, höhere Preise zu zahlen.
- Geschlossenes Ökosystem: iPhone, Mac, Apple Watch & Co. funktionieren in ihrem eigenen Universum reibungslos zusammen. Ein Wechsel zu einem anderen System bringt viele Umstände mit sich (Kompatibilitäten, Apps, Zubehör).
- Hohe Margen und überdurchschnittliches Wachstum: Der Burggraben lässt sich auch an Kursentwicklungen ablesen – Apple steigt seit Jahren mit 24 % p.a.
Amazon
- Skaleneffekte in der Logistik: Amazon hat ein globales Netzwerk aus Lagerhäusern, Liefer- und Versandwegen aufgebaut, das kaum mehr einzuholen ist.
- Prime-Ökosystem: Durch Prime-Abos, Streaming-Dienste und exklusive Angebote bindet Amazon Millionen von Kunden.
- Cloud-Dienste (AWS): Als führender Cloud-Anbieter hat Amazon hohe Wechselkosten geschaffen. Kunden, die einmal ihre Daten und Anwendungen in AWS integrieren, scheuen oft den teuren und aufwendigen Umzug zu anderen Anbietern.
ServiceNow
- Tiefe Integration in Unternehmensprozesse: Wer die Plattform einmal für IT-Automatisierung oder Personalprozesse nutzt, steht bei einem Wechsel vor beträchtlichem Aufwand.
- Hohe Kundenbindung durch steigenden Nutzen: Mit jeder zusätzlichen Abteilung, die ServiceNow nutzt, wird ein Ausstieg schwieriger. Gleichzeitig erhöht sich der Gesamtnutzen der Plattform.
Microsoft
- Weltweiter Standard: Office und Windows sind in Unternehmen und bei Endverbrauchern derart etabliert, dass ein Umstieg erhebliche Kosten und Lernaufwand verursacht.
- Azure als Cloud-Säule: Microsoft hat sich erfolgreich als Nummer zwei hinter AWS etabliert und profitiert von plattformübergreifender Integration (z.B. KI-Dienste in Azure).
- Abo-Modell: Einmal entwickelte Software lässt sich praktisch endlos vervielfältigen. Die daraus resultierenden konstanten Einnahmen und hohen Margen sind ein weiterer stabiler Burggraben.
Nvidia als Technologie-Primus mit Burggraben
Nvidia gilt als Vorreiter für Grafikprozessoren (GPUs) und KI-Hardware. Hier zeigen sich mehrere Ausprägungen einer Burggrabenstrategie:
- Technologischer Vorsprung und Spezialisierung
- GPU-Performance: Nvidia hat sich durch jahrelange Forschung und Entwicklung (R&D) in den Bereich Grafikprozessoren (ursprünglich für Gaming) einen massiven Vorsprung erarbeitet.
- KI-Fokus: Dieselben GPUs sind essenziell für das Training und die Inferenz neuronaler Netze. Dieser Vorsprung hat Nvidia praktisch zum Standard für KI-Anwendungen gemacht.
- Hohe Wechselkosten durch Software-Plattformen
- CUDA-Ökosystem: Viele Entwicklerteams und Unternehmen haben ihre KI-Anwendungen speziell auf Nvidia-Hardware (CUDA) ausgerichtet. Ein Umstieg auf andere GPU-Anbieter oder andere Hardwarearchitekturen ist teuer und zeitaufwendig.
- Skalierung und Netzwerk-Effekte
- Rechenzentren: Nvidia-GPUs sind in großen Cloud-Rechenzentren rund um den Globus zu finden. Die Verbreitung sorgt dafür, dass Drittanbieter ihre Software auf Nvidia abstimmen.
- Autonome Systeme und Edge-Computing: Nvidia expandiert in Märkte wie das autonome Fahren, Robotics und Edge-Computing. Diversifizierung macht das Unternehmen noch resistenter gegen Schwankungen in einzelnen Segmenten.
4. Bedeutung und Ausblick
Warum sind Unternehmen mit tiefem Burggraben attraktiv?
- Langfristige Stabilität: Ein tiefer Burggraben sichert hohe Margen und Marktanteile gegen kurzfristige Konkurrenz ab.
- Innovationspotenzial: Wer bereits einen Burggraben hat, kann disruptive Entwicklungen oft aus eigener Kraft integrieren und profitiert so von neuen Märkten oder Technologien.
- Skalierbares Geschäftsmodell: Insbesondere im Technologie- und Software-Sektor erlauben Skaleneffekte und Abo-Modelle (SaaS) überdurchschnittliches, profitables Wachstum.
Jevons-Paradoxon als Wachstumstreiber
Die höhere Effizienz neuer KI-Modelle kann zu einer breiteren Akzeptanz und Anwendung führen – der Gesamtbedarf an Rechenleistung, Datenspeicherung und KI-Hardware könnte sich dadurch steigern, was etablierte Player mit großen Produktionskapazitäten, eigener Cloud-Infrastruktur oder technologisch überlegenen Chips in eine noch stärkere Marktposition bringt.
Fazit
- Das Jevons-Paradoxon zeigt, wie technische Fortschritte im KI-Bereich nicht den Bedarf an Rechenleistung senken, sondern im Gegenteil das gesamte KI-Ökosystem weiter befeuern können.
- Unternehmen mit nachhaltigen Wettbewerbsvorteilen (Burggräben) wie Apple, Amazon, Microsoft und Nvidia sind in der Lage, neue Trends zu absorbieren und zu ihrem Vorteil zu nutzen.
- Wer in disruptive Zeiten investieren möchte, sollte besonders darauf achten, ob ein Unternehmen mit solchen stabilisierenden Faktoren ausgestattet ist. Starke Marken, hohe Wechselkosten, Patente oder proprietäre Plattformen – all das sind Indizien für einen tiefen Burggraben und damit für langfristigen Erfolg.